Seltene Wollarten, die du kennen solltest – Teil 10: Lotos
Hallo und schön, dass du da bist! Heute gibt es von mir einen weiteren Teil unserer beliebten Reihe über seltene Wollarten. Streng genommen handelt es sich dabei aber nicht um Wolle, aber um eine Art Garn und somit ein Material, das zur Herstellung von Kleidung genutzt wird: Lotos!
Tragegefühl – edel, edler, Lotosseide
Die Erfahrungswerte sind hier nicht sehr umfangreich, denn bis vor nicht allzu vielen Jahren war Bekleidung aus Lotosseide buddhistischen Mönchen vorbehalten. Häufig wurde sie auch zur Dekoration von Buddha-Statuen oder als Opfergabe verwendet. Erst seit weniger als zwanzig Jahren ist die Modebranche auf dieses exklusive Material aufmerksam geworden.
Herkunft bzw. Ernte
Schon hier weiche ich ein wenig von der üblichen Struktur dieser Textreihe ab, denn hier geht es eher um die Ernte als um die Herkunft: Lotos ist eine Pflanze, und somit ist es das erste Mal, dass wir nicht über Tiere sprechen, die das Grundmaterial liefern. Dafür ist aber die Herstellung und Vorbereitung unglaublich aufwändig, wie du gleich lesen wirst.
Zuerst wird also geerntet. Lotos ist eine Wasserpflanze, die zum größten Teil in Indien, Myanmar und Vietnam wächst. Inzwischen wird sie dort auch gezüchtet. Wenn der Wasserstand am höchsten ist, das ist zum Ende der Regenzeit, wird geerntet. Zu diesem Zeitpunkt sind die Pflanzen am längsten und bringen somit die reichste Ernte bei gleichem Aufwand.
Für die Ernte sind weitestgehend Männer zuständig. Sie fahren mit ihren schmalen Booten aufs Wasser und ziehen die langen Lotosstängel aus dem Boden des Sees. Geerntet wird zu dieser Zeit täglich, denn die Pflanzen lassen sich nur feucht verarbeiten.
Vorbereitung
Die geernteten Stängel sind im besten Fall zwei bis drei Meter lang und werden direkt nach der Ernte in geschickte Frauenhände übergeben oder für ein paar Tage eingeweicht. Die Frauen haben eine extrem aufwändige Arbeit zu erledigen, indem sie die Fasern aus den Stängeln gewinnen. Dazu werden ein paar wenige Stängel (max. 4) circa eine Hand breit vom Ende angeschnitten, dann abgeknickt und abgezogen.
Ziel ist es, die extrem dünnen Fasern (max. 5 Mikrometer dick) freizulegen und zu extrahieren. In mehreren Schritten wird so der gesamte Stängel abgezogen, bis am Ende die noch feuchten, hauchzarten Lotosfasern übrig sind. Ein einziger Stängel enthält maximal 50 Stück davon, oft auch deutlich weniger.
Aus der Faser wird Garn
Auch beim nächsten Schritt muss die Lotosfaser noch feucht gehalten werden, damit sie nicht bricht. Die Frauen streichen nun die Lotosfasern von drei oder vier Stängeln behutsam über ein Holzbrett und drehen diese mit der einen Hand zu einer festen und langen Schnur. Diese Schnur wiederum wird von einer Schale aufgefangen. Erst wenn auf diese Weise 40 Meter Garn hergestellt wurden, werden diese auf eine Spule gewunden.
Stell dir einmal vor: Um auf diese Art genug Garn für einen Schal herzustellen, braucht eine Arbeiterin ungefähr acht Wochen. Für ein Stoff von 100 x 75 cm sind 10.000 Stängel nötig – unglaublich, oder?
Weiterverarbeitung
Nun wird aus der Faser der Stoff, der schließlich zu Schals, Tüchern oder Kleidung verwendet werden kann. Das inzwischen getrocknete Garn, dass immer zu 40 Metern auf den Spulen liegt, wird gewoben – natürlich ebenfalls per Hand und an handgefertigten Webstühlen.
Eigenschaften Lotosseide
ist nicht nur sehr speziell in der aufwändigen Herstellung, sie verfügt obendrein über tolle Eigenschaften. So ist sie ausgesprochen leicht und spürbar atmungsaktiv. Sie kühlt bei Hitze und wärmt bei Kälte und ist wasserabweisend. Das kennen wir ja übrigens auch vom sogenannten Lotoseffekt, der jeglichen Schmutz einfach abperlen lässt.
Außerdem knittert Lotosseide nicht, was sie von Leinen oder Rohseide unterscheidet, der sie ansonsten optisch ähnelt.
Preis
Bei einem Material, das von der Ernte bis zur Fertigung dermaßen viel Aufwand und Zeit verschlingt und obendrein in der Menge des pflanzlichen Rohmaterials begrenzt ist, erklärt sich der hohe Preis natürlich von selbst. Erste Jacketts, die ein italienisches Modeunternehmen in den frühen 2000er Jahren produziert hat, kosteten bis zu 6.500 EUR pro Stück.
Farbe
Das unbehandelte Garn zeigt farblich einen Mix aus Grau und Beige. Eine spezielle Bearbeitungsmethode, zu der ich bei meiner Recherche keine näheren Einzelheiten herausfinden konnte, macht daraus ein edles Ecru. Selbstverständlich lassen sich die Lotosgarne aber auch einfärben, und zwar mit natürlichen Farbpigmenten.
Fazit
Bei Lotosseide handelt es sich definitiv um etwas ganz Besonderes und Edles. Zudem ist es rein pflanzlich, sodass die sonst häufige Kritik hinsichtlich des Tierwohls hier keine Rolle spielt. Aber natürlich gibt es auch hier Kritiken, die den geringen Lohn betreffen, den die Frauen für ihre harte Arbeit erhalten.
Im Verhältnis unserer Löhne ist das natürlich unbestritten. Gleichzeitig ermöglicht die Produktion von Lotosstoffen den Frauen in inzwischen mehreren Regionen aber auch eine Eigenständigkeit und einen Verdienst, den sie sonst nicht hätten.
Obendrein hat sich in den letzten Jahren speziell in Myanmar (ehemals Burma) der Tourismus zum Positiven entwickelt. Inzwischen werden einzelne der Produktionsstätten daher auch zu Schauräumen, in denen einige der Arbeiterinnen sich bei ihrer so speziellen und aufwändigen Tätigkeit über die Schulter bzw. auf den Webstuhl blicken lassen.
Tipp
Es gibt eine sehr sehenswerte TV-Dokumentation, die mich überhaupt auf dieses Thema aufmerksam gemacht hat: „Die Lotosweberinnen vom Inlesee“. Sie ist schon ein paar Jahre älter, aber dennoch nicht veraltet, und sie zeigt äußerst anschaulich das Leben der Frauen dort, die von der Arbeit mit den Lotospflanzen leben. Zu finden ist die Doku aktuell noch in der Mediathek von 3sat.